Was bedeutet Eugenik in Italien?

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Andreas Venakis
Was bedeutet Eugenik in Italien?
In Italien sind noch in den letzten fünfzehn Jahren Gesetze erlassen worden, die den Geburtskliniken vorschreiben, werdenden Eltern auf Wunsch
„eugenische“ Beratung anzubieten.1
Im deutschen und vermutlich auch im englischen Sprachraum wäre eine
solche Wortwahl auf Gesetzesebene undenkbar. ‚Eugenik’ ist als wissenschaftlicher und medizinischer Begriff diskreditiert. Kein Politiker würde es
wagen, Gesetzesvorlagen zu unterstützen, die ‚eugenische’ Optionen enthalten.
Wie ist dieser italienische Sonderfall zu erklären?
Auf den ersten Blick liesse sich dem italienischen Gesetzgeber ein mangelhaftes Geschichtsbewusstsein oder eine Insensibilität gegenüber problematischen Begriffen vorwerfen – selbst dann, wenn man in Rechnung
stellt, dass die Genetik in den 1970er Jahren, als die Region Bozen ihr Gesetz betreffend Sozialmedizinischer Dienste für Mutterschaft und Kind erliess, nicht so grosse Angriffsflächen für ihre Kritikerinnen bot, wie es heute die Fortpflanzungsmedizin auch in Italien tut. Wer aber einen zweiten
Blick auf die Begriffsgeschichte von eugenica wagt, wird den Strukturalisten Recht geben müssen: Die Bedeutung auch dieses Wortes wird durch
seinen Gebrauch in der Sprache bestimmt und nicht durch das, worauf es
sich bezieht (oder worauf wir Deutschsprachigen es aus historischen
Gründen zu beziehen pflegen).
Die eugenische Wende
Unter HistorikerInnen ist es unbestritten, dass es Francis Galton war, der
1883 der Eugenik den Namen gab.2 Galton hat mit seinen Arbeiten ein
1
LEGGE PROVINCIALE B OLZANO, Servizi socio-sanitari per la maternità e l’infanzia, 1978, S. 2; LEGGE REGIONALE
ABRUZZO, Norme per la tutela della salute e del benessere psicofisico della donna partoriente e del neonato,
1990, S. 8.
2
GALTON, Inquiries, 1883, S. 24.
Programm formuliert und auf den Begriff gebracht, das in den Industrienationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf bestehende Sensibilitäten
stiess. Diese Sensibilitäten waren aber von Land zu Land unterschiedlich
strukturiert, und das wurde von den HistorikerInnen lange Zeit zu wenig
betont.
Dass im Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine mehr oder
weniger diffuse Angst vor den ständig wachsenden, im Elend und an der
Armutsgrenze lebenden Arbeitermassen allgegenwärtig war, ist ein Hauptmerkmal dieser Sensibilitäten.3 Als Teil dieses Bürgertums zogen es einige
Wissenschaftler auch in Italien vor, die ‚soziale Frage‘ mit naturwissenschaftlichen Rezepten anzugehen. Es verwundert deshalb nicht, dass 1912
der erste internationale Eugenik-Kongress unter starker Beteiligung italienischer Wissenschaftler stattfand.4
Was eher verwundert, ist die Tatsache, dass keiner dieser Teilnehmer zuvor das Wort Eugenik in seinen Arbeiten verwendet hatte. Was Weingart,
Kroll und Bayertz für Deutschland festgestellt haben gilt auch für Italien:5
Obgleich die eugenische Idee in England schon in den sechziger Jahren
des 19. Jh. Gestalt annahm und obgleich Giuseppe Sergi, einer der Mitbegründer des Comitato Italiano per gli studi di Eugenica, Galton persönlich gekannt hat,6 ist Eugenik als Wort vor 1912 nicht nachweisbar. Eugenisches Gedankengut zirkulierte in Italien zwar schon vorher, aber dies
geschah unabhängig von der Entwicklung in England und ohne das Wort,
das die Sache seit Galton bezeichnet. Viel mehr orientierten sich die italienischen ‚Proto-Eugeniker’ am Degenerationsbegriff Morels, den sie zum
3
DE
GRAZIA, Radikalisierung, 2000. S. 231 kann ich nicht zustimmen. Sie meint, dass die Angst, welche das
„Anschwellen arbeitender bzw. ‚gefährlicher‘ Klassen in schnell wachsenden Städten wie Paris, Berlin und
Wien“ auslöste, im präfaschistischen Italien ausgeblieben sei.
4
Zur überraschend grossen italienischen Delegation vgl. QUINE, Italian Eugenics Movement, 1990, S. 17 und
MAIOCCHI, Scienza, 1999, S. 11.
5
WEINGART, KROLL et al., Rasse, Blut und Gene, 1996, S. 37.
6
SERGI, Galton, 1911.
Ausgangspunkt ihrer Studien machten.7 Erst mit dem Eugenik-Kongress
von London taucht das Wort eugenica im italienischen Wissenschaftsbetrieb auf,8 und erst nach dem Londoner Kongress kam es 1913 unter der
Leitung von Giuseppe Sergi zur Gründung des bereits erwähnten Comitato
Italiano per gli studi di Eugenica.9 Der Londoner Eugenik-Kongress hatte
auch in Italien die ‚eugenische Wende’ eingeläutet. Plötzlich wurden sich
Wissenschaftler verschiedenster akademischer und politischer Provenienz
bewusst, dass das, worüber sie seit Jahren forschten und schrieben einen
einprägsamen Namen hat. Galtons Vorschlag, eine präzisere und zugleich
generalisierbarere Bezeichnung als viriculture in die Sprache der Wissenschaft einzuführen,10 wurde in Italien, wenn auch mit einer Verspätung
von fast dreissig Jahren, angenommen.
Institutionalisierungsversuche
Quando anche in Italia spunteranno i primi albori di una coscienza eugenica? Quando anche da noi s'incomincerà a comprendere il valore
fondamentale umano, pregiudiziale ad ogni questione sia di classe che
di nazione, che ha il problema eugenico? Quando ci vorremo persuadere che oggi ancora, nell'anno di grazia 1914 – anche dopo la conquista
della Libia ed i voli d'Icaro del neo-imperialismo nazionalista – se l'Italia, bene o male, è fatta, sono ben lontani dall'esser fatti, anche fisiologicamente parlando, gli Italiani? 11
Mit diesem Vorwort leitete das Publikationsorgan der Lega neomalthusiana
italiana zu einem Artikel über, der die Leserschaft über die Ziele und Methoden der Eugenik informieren sollte. Die Fragen des Autors zeigen zweierlei: Eugenik als Wissenschaft, geschweige denn als kollektives Bewusst-
7
SERGI, La degenerazione del carattere, 1888; SERGI, Degenerazioni umane, 1889; NICEFORO, Studio scientifico,
1907; NICEFORO, Intelligenza, [1913].
8
GINI, Contributi statistici, 1912; CONSIGLIO, Problemi, 1914; SERGI, L'eugenica, 1914.
9
Atti CISE, 1914.
10
GALTON, Inquiries, 1883, S. 24.: „The word eugenics would sufficiently express the idea; it is at least a neater
word and a more generalised one than viriculture, which I once ventured to use.“
11
[GALLETO LEO], Miglioramento, 1914.
sein, scheint in der Industriestadt Turin, wo die Educazione sessuale. Rivista di Neomalthusianismo e di Eugenica mit dem Ziel herausgegeben
wurde, die Arbeiterschaft für die Geburtenkontrolle zu sensibilisieren, etwas Unbekanntes gewesen zu sein. In Abwandlung des bekannten postunitarischem Diktums erinnert der Autor daran, dass Italien als Staat zwar
existiere aber den Bürgerinnen das nationale und eugenische Bewusstsein
fehle.
Giuseppe Sergis Bemühungen 1914 innerhalb der wissenschaftlichen
Dachorganisation Società italiana per il progresso delle scienze (SIPS) eine Sektion für Eugenik einzurichten, waren gescheitert.12 Das Römer Comitato Italiano per gli studi di Eugenica überlebte den Ersten Weltkrieg
ebenso nicht, wie die oben erwähnte Neomalthusianische Bewegung. Dafür entstand 1922, wiederum in Rom, die Società italiana per gli studi di
Genetica ed Eugenica (SIGE). In seiner Eröffnungsrede zum zweiten Kongress der SIGE von 1929 wird Corrado Gini (1884-1965), langjähriger
Präsident und Gründungsmitglied feststellen, dass die Eugenik unter den
Wissenschaftern und verstärkt noch unter der Bevölkerung „weiterhin“ einen geringen Bekanntheitsgrad geniesse.13
Die Verbreitung der Eugenik ausserhalb der Fachkreise ist nur über solche
indirekte Äusserungen festzustellen und deshalb schwierig einzuschätzen.
Eins ist aber gewiss: Die SIPS hat seit ihrer Gründung 1922 die Marschrichtung der italienischen Eugenik bestimmt. Nachdem ihr zu Beginn in
den Spalten der Zeitschrift Difesa sociale Gastrecht gewährt wurde, wechselte sie 1926 zu Aldo Mielis Rassegna di studi sessuali (seit 1924: e di
eugenica) und machte diese Zeitschrift bald zu ihrem Publikationsorgan.
Als im Mai 1927 mit Mussolinis Auffahrtsansprache der Startschuss zur
pronatalistische Bevölkerungspolitik fiel, passte sich die Zeitschrift den
neuen Prioriäten an und hiess fortan: Rassegna di studi sessuali demogra-
12
Vorträge zur Eugenik bekamen die Kongressteilnehmer in den folgenden Jahren gleichwohl zu hören (GINI,
Guerra, 1922.; BUONCUORE, Criminalità, 1926.; ZUCCARELLI, Problema, 1925; LEVI, Demografia ed Eugenica,
1926; BAGLIONI, Problemi, 1938.)
13
GINI, Discorso, 1932, S. 18.
fia e di eugenica (Genesis). Es folgten noch einige Namensänderungen,
von denen man annehmen muss, dass sie auf Betreiben Corrado Ginis
stattfanden. Wie stark Gini die italienische Eugenik dominierte, zeigt die
letzte Namensänderung, für die er freilich nichts mehr kann: Nach seinem
Tod 1965 verschwand der Hinweis auf die Società italiana di genetica ed
eugenica aus dem Titelblatt und dem Impressum der Zeitschrift, die seit
1934 Genus heisst und weiterhin in Rom erscheint.
Pronatalismus
Für den Gang der italienischen Eugenik ist es nicht unerheblich, dass ihr
Protagonist Corrado Gini am Londoner Kongress nicht zu jenen gehörte,
die alten Wein in neue Schläuche gossen und in ihre bestehenden Texten
lediglich das Wort Eugenik einflochten. Vielmehr referierte Gini über die
eugenische Relevanz seiner Theorie der Bevölkerungsumschichtung („ricambio delle classi sociali“). Mit dieser Theorie machte der Schüler von
Villfredo Pareto aus der Not der differentiellen Geburtenrate eine Tugend.
Die differentielle Geburtenrate zwischen Ober- und Unterschicht sei als
Motor der Bevölkerungsumschichtung zu betrachten. Die Unterschicht sei
das Elite-Reservoir, aus dem sich die an Nachkommen arme Oberschicht
erneuere. Es lag in der Logik dieser Vorstellung, dass Gini das Eugenikverständnis und bis zu einem gewissen Grad auch die Degenerationsbefürchtungen Galtons nicht teilen mochte und deshalb verlangte, dass sich die
Eugenik viel mehr um die Unterschicht als um die Oberschicht kümmern
müsse.14 Die Vorteile, die ein gesunder Vorrat an Arbeitern für die aufstrebende italienische Industrie darstellte, waren Gini natürlich bewusst.15
Mit seiner Zyklus-Theorie zeichnete er die pronatalistische Bevölkerungspolitik Mussolinis massgeblich vor und prägte sie in der Folge als Leiter
des Istituto Centrale di Statistica del Regno d' Italia zwischen 1926 und
1932, indem er den Bevölkerungsüberschuss und die Emigration in ein
Theoriegebäude fasste, das den imperialen Plänen des Regimes zugute
14
GINI, Contributi statistici, 1912, S. 379.
15
GINI, Fattori demografici, 1912.
kam.16
Rassismus
Lange vor der rassistischen Wende in Mussolinis Bevölkerungspolitik im
Jahre 1938, ja sogar vor dessen Machtkonsolidierung 1926, kultivierte die
italienische Eugenik ein rassentheoretisches Vokabular, das fast alle Optionen für die Zukunft offen liess. Ich sage absichtlich fast, weil die Publikation des Manifestes der rassistischen Wissenschaftler sowie der darauf folgende Erlass der Rassengesetze von 1938 die italienische Wissenschaftstradition auf dem Gebiet der Rassenanthropologie auf den Kopf stellte.
Der arisch-nordische Schwerpunkt der italienischen Rassengesetze lag
quer zur Forschungstradition diese Landes.17 Spätestens seit Sergis
Hauptbeitrag zu diesem Thema im Jahre 1895 galt in Italien die kulturelle
Überlegenheit der mediterranen ‚Rasse‘ als gegeben.18 Es trifft also nicht
zu, dass der italienische Wissenschaftsbetrieb frei von rassistischen Vorurteilen war – er waren lediglich anders gepolt.
Im Gegensatz zu Deutschland, wo man sich zunächst darüber stritt, ob
man die Eugenik nicht lieber Rassenhygiene nennen sollte,19 und im Gegensatz zu Frankreich, wo zwischen eugénisme und eugénique unterschieden wurde, kam es in Italien zu keinen definitorischen Grabenkämpfen.20 Dort herrschte eher ein gleichgültiges Nebeneinander von Bezeichnungen wie eugenica,21 eugenetica,22 bonifica umana, biotipologia umana,
biologia politica und biologia delle razze.23 Bei allen Unterschieden, welche
16
IPSEN, Dictating Demography, 1996, S. 80-87.
17
MAIOCCHI, Scienza, 1999.
18
Gemeint ist SERGI, Mediterranean, 1967, erstmals erschienen 1895 und 1897 in deutscher Übersetzung.
19
Vgl. WEISS, Race Hygiene, 1990, S. 8ff. und WEINGART, KROLL et al., Rasse, Blut und Gene, 1996, S. 92ff.
20
Eugénisme: Anwendungsorientierte Doktrin. Eugénique: Erforschung der Faktoren, die sich positiven oder
negativ auf die Fortpflanzung der Menschen auswirken. Zu Frankreich siehe CAROL, Eugénisme, 1995, S. 3850 sowie N ICOLETTI and GALVAGNI, Presentazione, 2004, S. 649, zu Italien vgl. ARTOM, Principi, 1914. sowie
BARBÀRA, Eugenica, 1932, S. 560.
21
GINI, Contributi demografici, 1912; CONSIGLIO, Problemi, 1914; SERGI, L'eugenica, 1914.
22
CLERICI, Eugenetica, 1912; GAIFAMI, Eugenetica, 1915; P ATELLANI, Etica, 1919.
23
PENDE, Creazione, 1923; PENDE, Bonifica, 1933; PENDE, Eugenica, 1933.
diese Begriffe im Detail aufwiesen, standen sie doch alle für die Überzeugung, dass negative eugenische Massnahmen nicht der richtige Weg waren, um die Bevölkerungspolitik zu gestalten.
Biologia delle razze oder biologia politica sind mit der deutschen Rassenhygiene nicht zu vergleichen. Beide Begriffe stammen vom Endokrinologen Nicola Pende (1880-1970) und gehörten zu seiner Konstitutionslehre,
die er ab 1932 mit rassentheoretischem Vokabular anreicherte. Bis in die
Nachkriegszeit setzte sich Pende vergeblich für die Einführung „biotypologischer“ Identitätskarten ein, die dem Staat jederzeit über die gesundheitliche Verfassung seiner Bevölkerung Auskunft geben sowie als Grundlage
für die Bewertung der Militär-, Arbeits- und Ehetauglichkeit von Individuen
dienen sollten.24 Pende hielt nicht viel von den weniger weit gehenden
Ehe- und Gesundheitszertifikaten, die seit Schallmayer auch andere Autoren immer wieder forderten, in Italien aber nie eingeführt worden sind.
Ihm schwebte eine Medizin vor, die den Patienten ganzheitlicher betrachtet, also nicht als Mann oder Frau, Kind oder Erwachsenen, sondern als
Träger bestimmter ‚rassischer’ und konstitutioneller Merkmale, die eine je
andere Behandlung erforderten. Im Grunde war Pende ein früher Vertreter
der Pharmaka- und Toxikogenomics, mit denen uns heute die Pharamaunternehmen Medikamente nach Mass versprechen,25 wenn wir uns dazu
bereit erklären, unsere Gene offen zu legen.
Die genetische Wende
Stefan Kühl hat in seinem Buch Die Internationale der Rassisten die These
aufgestellt, dass die Anfangserfolge der Eugenik nicht lange anhielten,
weil ihr von Seiten der Bevölkerungswissenschafter und der Humangenetiker harsche Kritik entgegenschlug. Die auf die Verwissenschaftlichung
der Eugenik zielende Professionalisierungsversuche der International Fe-
24
PENDE, Indirizzo costituzionalistico, 1926; PENDE, Scheda biotipologica, 1938; PENDE, La cartella personale
auxologica-biotipologica, 1955.
25
SHOSTAK, The Emergence of Toxicogenomics: A Case Study of Molecularization
, 2005.
deration of Eugenic Organizations (IFEO) wollten nicht recht gelingen. Pläne für eine eigene Zeitschrift der IFEO verliefen ebenso im Sande, wie der
Wunsch unerfüllt blieb, im Internationalen Forschungsrat aufgenommen
zu werden. Kühl stellt in diesem Zusammenhang den orthodoxen Eugenikern die Reformeugeniker gegenüber, die sich der fehlenden wissenschaftlichen Grundlage der Eugenik bewusst waren.26
Die italienische Eugenik hat auf nationaler Ebene eine vergleichbare Entwicklung durchgemacht wie die IFEO. Die von Kühl so genannten Reformeugeniker traten bereits am ersten nationalen Eugenik-Kongress von 1924
auf den Plan und monierten die unzulänglichen wissenschaftlichen Grundlagen. Darüber hinaus, und das ist vermutlich in keinem anderen Land so
ausgeprägt der Fall gewesen wie in Italien, wiesen schon vor diesem Kongress viele Eugenik-Interessierte Wissenschafter darauf hin, dass eugenische Massnahmen den Eingriff des Staates in die bis anhin als Privat geltende Sphären der freien Wahl des Ehepartners und der Fortpflanzung bedeuten würden. Ein Eingriff, der von den Bürgern nicht toleriert würde.
Voreheliche Gesundheitszertifikate, Eheverbote und Zwangs-Sterilisation
waren Massnahmen, die, ganz abgesehen vom unzulänglichen Stand des
Wissens über die Vererbungsmechanismen, schon allein aus liberaldemokratischen Gründen in Italien nicht durchführbar schienen.27
Auf der praktischen Ebene konzentrierte sich die italienische Eugenik deshalb im Wesentlichen auf die Einrichtung von Beratungsstellen für Ehekandidaten. Diese Beratungsstellen wurden meistens in bereits bestehende Spitäler integriert. Ihre Aufgabe sah man in erster Linie darin, der offizielle Politik der Geburtenförderung und des Abtreibungsverbotes Nachachtung zu verschaffen.28 Allerdings rannten die Eugeniker damit offene
Türen ein, denn mit der Opera nazionale per la protezione della maternità
e dell'infanzia (ONMI) bestand seit 1925 bereits eine Institution, die sich
26
KÜHL, Internationale, 1997, S. 97f.
27
BATTAGLINI, Dottrina eugenica, 1914, S. 660; MIELI, Leggi, 1921. Vgl. dagegen die Diskussion in Deutschland
bei RICHTER, Katholizismus, 2001, S. 83-100.
28
BAGLIONI, Riuniuni o relazion del consiglio direttivo nazionale, 1927.
für die einst so genannte prä- und postnatale Mutter- und Kindpflege einsetzte und Mussolinis Stolz war.
Mit welchem Erfolg oder auch Misserfolg diese Beratungsstellen tätig waren, ist schwierig einzuschätzen, denn was an Quellen darüber vorhanden
ist, stammt aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Daraus geht hervor,
dass sich die eugenische Eheberatungsstellen – auch jene innerhalb der
ONMI – sukzessive zu Beratungsstellen für pränatale Gendiagnostik gewandelt haben.29
1975 wurde die zentralstaatlich organisierte ONMI aufgelöst und ihre Aufgaben den Regionen abgetreten. Die im ersten Abschnitt zitierten Gesetze
stammen aus dieser Übergangszeit.
Fazit: Katholische Wende?
Die Ablehnung negativer eugenischer Massnahmen in Italien wird von der
Geschichtsschreibung gerne mit dem Einfluss der Katholischen Kirche begründet. Das sahen bereits die Nationalsozialisten mit Blick auf die italienischen Rassengesetze so. Der Deutsche Botschafter in Rom schrieb
1938:
"Der Duce kennt die Erziehung des italienischen Volkes zum Katholizismus und das menschliche Gefühl des Mitleids, mit dem das Schicksal vertriebener Juden in Italien mehr betrachtet [wird] als mit den
Augen rationaler Vernunft. Das in Italien als heilig geltende Familienglück [ist] durch den grundsätzlichen und ausnahmslosen Ausschluss
von jüdischen Mischlingen gefährdet."30
Diese ‚Katholizismusthese’ greift aber zu kurz, wenn sie allein die Päpstliche Enzyklika Casti Connubi von 1930 oder die Lateranverträge von 1929
als Beleg dieses Einflusses hinzuzieht. Von wenigen Ausnahmen abgese-
29
SPALLICCI, Repubblica, 1947; BOLDRINI, Eugenica, 1953; P IERACCINI, Lavoro feminile, 1953; PALMIERI, Lineamenti, 1955; GIANFERRARI, Consulenza, 1961; BEOLCHINI, La consulenza eugenica dopo la nascita di un neonato con malformazioni del sistema nervoso centrale, 1967.
30
Zit. in: POMMERIN, Rassenpolitische Differenzen, 1979, S. 651.
hen, waren sich die Eugeniker bereits 1924 einig, dass man der Forschung
nicht vorgreifen dürfe und dass die Zeit für irreversible eugenische Massnahmen noch nicht reif war.
Selbstverständlich gab es prominente Vertreter der Kirche, welche die moraltheologischen Prinzipien in Erinnerung riefen.31 Ebenso gab es gestandene Wissenschafter, welche im Kampf gegen die negative Eugenik, die
Kirche um Unterstützung baten.32
Andererseits trifft es auch zu, dass viele Wissenschafter Darwins Evolutionstheorie anerkannten und sich damit ohne weiters in Opposition zur Kirche begeben konnten. Die methodische Frage die sich also stellt, ist folgende: Lässt sich aus den Quellen der italienischen Eugenik eine mentalitätsgeschichtliche Erklärung für den italienischen Entwicklungspfad herleiten?
31
GEMELLI, Morale cattolica, 1924.
32
PESTALOZZA, Sterilizzazioni, 1932, S. 84.
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